Die indigenen Nekropolen der Locride zwischen der Eisenzeit und der archaischen Epoche

mappa
Ianchina
Grabkammern
Gefässe

Zwischen 1909 und 1912 hat sich Paolo Orsi – der grosse Archäologe, dem wir Viele der wichtigen, archäologischen Entdeckungen von Sizilien und Kalabrien verdanken – der Entdeckung einer umfangreichen Nekropole der ersten Hälfte der Eisenzeit gewidmet. Die Nekropole liegt im direkten Hinterland der griechischen Kolonie Locri Epizefiri, ringsum eine grosse Ebene flankiert von den steilen Abhängen die «Ianchina» genannt werden.

Dem Archäologen aus Rovereto (TN, der zuvor bereits zahlreiche Grabungskampagnen in vielen bronze- und eisenzeitlichen Nekropolen Siziliens mitgemacht hatte, kamen diese neuen kalabrischen Bestattungen augenblicklich bekannt vor: es handelt sich um Kammergräber, die an den Hängen des Hügels in den Fels gegraben worden waren, ein Begräbnistyp, der seit der Kupferzeit in Mittel- und Ostsizilien weit verbreitet war und dann bis in die Archaik weiterging. Jedes Kammergrab enthielt mehrere Bestattungen, von mindestens 2 bis maximal mehr als 20, wobei letztere offensichtlich über einen längeren Zeitraum genutzt worden sind.

Die Kammergräber von Ianchina sind in mehrere Nekropolen unterteilt: entlang der Westseite des Hügels liegt die Nekropole von Val Canale, nördlich davon folgt die Nekropole von Ianchina, beide sind ausführlich untersucht worden.Im Osten liegen die Grabgruppen von Scorciabove und Patarriti, die nur in begrenztem Umfang erforscht worden sind. Die Gräber von Patarriti zeichnen sich aus durch das Vorhandensein eines kleinen Satzes von einzelnen Grubengräbern, die unter der Klippe des Abhangs gefunden worden sind.

Viele Gräber wurden bereits geplündert und so kam es, dass Orsi 1890 bei einem lokalen Antiquitätenhändler zahlreiche Bronzeobjekte aus der Eisenzeit entdeckte und darauf schloss, dass es wohl eine bedeutende einheimische Fundstätte der Früheisenzeit in der Nähe von Locri geben muss. Dennoch waren die Funde sehr zahlreich, denn in den geplünderten Gräbern entfernten die Plünderer einfach die Bronzegegenstände und liessen den grössten Teil der Keramik an Ort und Stelle zurück.  Wie in den sizilianischen Nekropolen derselben Zeit besteht Letztere aus Dutzenden, manchmal sogar Hunderten von Vasen mit geschlossener und offener Form, unter denen insbesondere die typischen Schalen mit einwärts gebogenem Rand, der mit Rippen «a turbante» verziert ist, dominieren. Der grösste Teil der Keramik gehört zur Produktion aus Impasto, die für die indigenen Gemeinschaften der Halbinsel der frühen Eisenzeit typisch ist. Eine kleine Gruppe von Vasen zeichnet sich hingegen dadurch aus, dass er aus Feinkeramik hergestellt und auf einer Drehscheibe bearbeitet worden ist, um dann mit Motiven bemalt zu werden, die von griechischen geometrischen Keramiken aus der Eisenzeit inspiriert sind.

Die Entdeckung schien sofort sensationell: Seitdem und für fast ein Jahrhundert spielt die geometrische Keramik von Ianchina eine zentrale Rolle bei der Erforschung der Beziehungen zwischen Griechenland und Italien zu Beginn des 1. Jahrtausends v. Chr. bis zur jüngsten Monographie von Laurence Mercuri von 2004.

Während sich die Aufmerksamkeit der Wissenschaftler insbesondere auf diese spezielle Klasse von Artefakten konzentrierte, war die Nekropole von Ianchina als Ganzes noch nicht Gegenstand systematischer Studien. Mit seiner üblichen Akribie und nach einem Vorbericht von 1913 druckte Orsi 1926 in der Reihe Monumenti Antichi dei Lincei einen umfassenden Bericht über seine Forschungen zur Kalabrischen Eisenzeit in Ianchina und Torre Galli. Der Text, obwohl umfangreich und detailliert sowie von hohem Niveau, scheint aber nicht mehr den Bedürfnissen der modernen archäologischen Forschung zu genügen.

Darüber hinaus sind viele entscheidende Aspekte, wie z.B. die chronologische Anordnung der Funde, durch die Fortsetzung der Forschung weitgehend überholt. Die knappe Entwicklung der Studien zur relativen und absoluten Chronologie erlaubte es Orsi nicht, sich auf die grosse chronologische Lücke zu konzentrieren, die die beiden kalabrischen Nekropolen trennt: Während Torre Galli zu den frühesten Stadien der frühen Eisenzeit (Ende 10.–9. Jahrhundert v. Chr.) gehört, dokumentiert Ianchina die Horizonte, die später datieren als das volle achte Jahrhundert v. Chr. oder als die Jahre der Gründung von Pithekoussai und der ersten kolonialen Spuren im Süden.

Ziel dieses Projektes ist es, der studierten Öffentlichkeit eine vollständige, umfangreiche und aktualisierte Ausgabe – entsprechend dem Kanon der modernen archäologischen Forschung – zu den Forschungen von Orsi in Ianchina zur Verfügung zu stellen und damit eine Lücke zu schliessen, die seit fast einem Jahrhundert besteht.

Aber die Grabfunde von Locride enden nicht mit dem archaischen Zeitalter: Tatsächlich gehen die Nekropolen von Stefanelli di Gerace und Santo Stefano di Grotteria auf das 7. Jahrhundert v. Chr. zurück, Zusammenhänge, die zwischen den 60er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts untersucht wurden und die, obwohl wenig bekannt, eine Schlüsselrolle beim Lesen der Prozesse der Integration und Definition der Identität lokaler indigener Gemeinschaften innerhalb der neuen kolonialen Dimension spielen. Auch in diesem Fall hofft das Projekt, die Gesamtausgabe der Entdeckungen dieser sehr wichtigen, aber wenig bekannten Grabkomplexe abzuschliessen. 

Francesco Quondam

ehemaliger wissenschaftlicher Mitarbeiter (Fachbereich Klassische Archäologie)